Montag, 12. November 2012

Märchen der modernen Welt. Oder: Lamento für unsere Zeit.

[Anlässlich der Andacht zum 23. Jahrestag des Mauerfalls in der Kirche der Versöhnung am 9.11.2012]


Ein Märchen der modernen Welt
wird seit nunmehr 23 Jahren erzählt
Von einem Wunder, das da kam
als kaum mehr einer wirklich glaubte daran...

Fast 3 Jahrzehnte lag sie still
Zwischen Maschendraht und Maschinengewehr
vergiftet wie Schneewittchen weiß
lag sie da und schlief
Die Wunden, die man für sie schlug,
die schlug man tief
Die Mauer, erbaut von Menschen aus Angst und Gier
Es brachen Herzen
Es fielen Prinzen
Es wachten Drachen, derer vier
Dem gezweiten Land das Herz im Halse stecken blieb
bis ein unterdrücktes Flüstern endlich rief:
„WIR SIND DAS VOLK!“

Steter montäglicher Tropfen
der höhlte den ersten Stein
trat eine Lawine los und stellte bloß
einen Kaiser, der keiner war
seine neuen Kleider nur irrer Schein
Aus dem Kern einer guten Idee
zu Wahn gesponnen –

so wie es in der Geschichte schon immer war:

Daraus wurden Märchen und Religionen gemacht
Damit wurden Kinder in den Schlaf gewiegt und ganze
Völker um ihre Ruhe gebracht

Mit Geschichte(n) aus des Menschen wahren Kern...
Aber anders als Luther, Ghandi oder King
Glaube nicht mehr wirklich an:
Das Gute daran?

Tatsächlich habe ich den Glauben verloren
den eine Generation vor mir gerade erst wiederfand
Und ich weiß nicht, wann er mir verloren ging:
Der Glaube, dass jeder Mensch ein Recht auf Freiheit hat

Dann erinnere mich an die 90er und
vermisse ich das Gefühl, das diese prägte:
THE BEST THINGS IN LIFE ARE FREE!
Sangen und glaubten wir
die Welt gehörte uns und unseren Träumen
und wir gehörten ihr
die Wendekinder:
Wir glaubten daran, dass sich das Blatt der Geschichte wendet
zum Besseren
nicht mehr , nicht minder

Die Welt hatte das Schlimmste ja schon überstanden!
Die Wunden schienen geleckt
am Ende eines Jahrhunderts
das als Mahnung im Rückspiegel
noch müde die Zähne bleckt
Volle Fahrt voraus
Die Zukunft sollte anders werden…
Die Welt hatte sich erkämpft
ihr Happy End!

Nur hört der Film im Leben ja da nicht auf
und das gebrannte Kind von Katharsis
nicht zur Läuterung, sondern schlichtweg
in die nächste Katastrophe rennt

Als hätten wir nichts gelernt
Als hätten wir alles vergessen
Was nützt denn all das Mahnen und Erinnern
wenn unsere Taten am Ende alle guten Vorsätze fressen?

An das Gefühl der Freiheit, wie man sie damals erfuhr
kann man sich heute jedenfalls kaum mehr erinnern:

Freiheit, die keine Grenzen kennt
Freiheit, die die Mauern, die unsere Generation gefangen hält, sprengt

Denn die Mauern von heute sind:
Die Kontomißstände

Die neuen Grenzen sind:
Zukunfts- und Existenzängste

Das ist, was die Welt
von heute im Innersten zusammenhält

Denn
MONEY MAKES THE WORLD GO 'ROUND
THE WORLD GO 'ROUND
THE WORLD GO
...down.

Und es bleibt die Frage:
Geht’s von hier noch mal bergauf?
Wie immer bleibt die Hoffnung,
aber daran wirklich glauben tut man einmal mehr kaum...

Wenn man das Gefühl hat
dass man als Einzelner eh nichts ändern kann
dass man hilflos ist gegen eine Politik, die macht
was die Wirtschaft will
Das ist eine Hilflosigkeit
ähnlich derer wie vor 30 Jahren hinter der Mauer bekannt

Bei aller Freiheit
- des Marktes -

Das Vertrauen ist hin
das baut man nicht so schnell wieder auf
denn wirklich jeder hat heutzutage die Absicht
eine Mauer zu bauen:

Das beginnt im Kleinen
Denn eine Mauer zwischen
Dir und mir
Lässt jedem das seine
Aber das Gras ist nun mal grüner
auf der immer anderen Seite
Und so sitzen wir alle im Glashaus
und warten:
Wer wirft die ersten Steine?

Dabei wissen wir nicht mal mehr
was wir da eigentlich schützen
und wofür es sich noch zu kämpfen lohnt
Kämpfen lassen wir lieber andere
im Colosseum der Neuzeit, dem TV
unser dreckig Zuckerbrot
dem wir fleißig zollen Applaus
gerade genug unterhalten
um nicht aufzumucken
vielleicht reicht's grad noch
um mit den Schultern zu zucken

Und ich weiß, das hat mit den Gefängnissen dieser Welt nicht viel zu tun…
Aber wir reden von Freiheit!

Doch der Großteil meiner Generation
fühlt sich in einem goldenen Käfig gefangen
wenn er Glück hat mit Job und Altersvorsorge, aber
im ewigen Ängsteln, Zweifeln und Bangen
Man hatte mal Träume
Aber die hat man
- wie auch den Idealismus -
mitgehangen


Ich will nichts verklären
Nicht die Vergangenheit
Aber auch nicht die Gegenwart

Fakt ist:
Wir hatten eine große Chance
aber haben bisher zu wenig daraus gemacht

Und es muss gesagt werden:
Damals war nicht alles schlechter
und alles ist auch nicht besser heut
Und ich wünschte mir, dass sich das Beste aus beiden Welten
Zum höchsten Wohle aller vereint... weltweit.

Doch egal, wie die Dinge standen oder stehen
ich will heute und hier eigentlich nur eines:

Dass wir uns erinnern.
Und dass wir wieder sehen:

Was Menschen möglich ist!

Erinnern wir uns also
und widmen wir unseren Dank und unser Gedenken
all jenen, die friedlich und solidarisch
die Macht als Volk in die Hand nahmen
und nicht nur ihres, sondern auch unser Schicksal in die Bahnen lenkten

Erinnern wir uns, dass ein Weg geebnet wurde
für EINE Welt… ohne Grenzen
Also lassen wir auch die letzten Mauern fallen
Beginnen wir mit denen in unseren Herzen

Und erinnern wir uns, solange auch nur eine Mauer noch steht:

An ein Wunder!
Es war möglich!

Lassen wir es wieder gescheh’n…